Gabriel Graser Costa
16.12.2004 21:00 - 22:00
"Die meisten Menschen träumen nur von Engeln,
wir haben das Glück, einen persönlich zu kennen"
*
"Frauen verstorbener Männer nennt man Witwe
Männer verstorbener Frauen nennt man Witwer
Kinder verstorbener Eltern nennt man Waisen
Eltern verstorbener Kinder haben keinen Namen,
denn der Schmerz ist unbenennbar und niemand ist darauf vorbereitet."
Heute ist der 26. August 2009. Schon bald sind 5 Jahre vergangen, seit
Gabriels Geburt und Tod. Wie ich die Zeilen las, die ich im Jahre
2007 schrieb, überkam mich das Bedürfnis, meinen Bericht
ein wenig zu verändern. Nicht nur die Zeit vergeht, manches
sieht man auch aus einer neuen Perspektive. Die Grundaussagen bleiben
jedoch, wenn auch die Wortwahl ein wenig anders ist.
Es ist nun schon 2 Jahre her, seit der Geburt und dem Tod meines Sohnes
Gabriel. Die Zeit vergeht, der abgrundtiefe, zerreissende Schmerz
weicht zurück, doch die Sehnsucht bleibt bestehen. Die
Sehnsucht, mein Kind zu umarmen und ihm meine Liebe zu geben, ihn
spüren zu lassen wie sehr ich ihn liebe, durch Umarmungen,
Küsse, Streicheleinheiten; durch Schimpfe, wenn er etwas
angestellt hat, Trost, wenn er traurig ist. Ja, die Liebe bleibt und
sie wird nicht kleiner, auch nicht weniger fassbar, sie ist immer da,
die absolute und bedingungslose Liebe. Die Liebe, die einfach ist, so
wie Gott. Ich kann sie nicht materialisieren, ich kann ihr nicht
durch meinen Körper Ausdruck geben, aber ich kann sie leben, ich
kann sie flüstern, ich kann sie träumen und das Wichtigste
ist: ich kann sie aussprechen, denn sie hat einen Namen und sie hat
ein Gesicht: Gabriel.
Während ich diesen Bericht verfasse, erlebe ich ein Wechselbad
der Gefühle: Sehnsucht, Liebe, Trauer, Dankbarkeit und Freude.
Dankbarkeit und Freude, die Mutterliebe spüren zu dürfen, die Freude mein
Kind getragen zu haben, ihm das gegeben zu haben, was jeder Mensch
braucht um zu leben um zu reifen und um in Frieden zu sterben: Liebe.
Ich möchte keine Sekunde mit meinem Sohn missen, denn sie sind Teil meines Lebens
und unseres gemeinsamen Weges, der von Innigkeit und Verbundenheit
geprägt ist.
Gabriel ist mein grösster Lehrer.
Durch ihn habe ich erfahren, was es wirklich heisst, Liebe zu geben,
ihm habe ich zu verdanken, die Ruhe und Zuversicht gefunden zu haben,
die mich heute tragen, den tiefen Glauben der mich immer nach vorne schauen
lässt, der mich trägt, auch wenn ich in mich zusammenfalle.
Durch Gabriel durfte und darf ich spüren was es heisst, von Gott
getragen zu werden.
Im Mai 2004 erfuhr ich, dass ich schwanger war, ich war bereits im 2.
Monat. Sein Herzlein hatte ich bereits bei einem Untersuch gehört,
es schlug ganz schnell. Wie Musik klang es in meinen Ohren!
Im August 2004, etwa im 4.Monat war der erste Ultraschall geplant. Eine
Woche davor hatte ich einen Geistesblitz, der so schnell er gekommen, auch
wieder gegangen war: Anenzephalie. Ich fand gerade noch Zeit ein Stossgebet
loszuschicken: „Lieber Gott, bitte lass das nicht wahr sein.“
An besagtem Tag fuhr ich zum Ultraschall. Ruhig und zuversichtlich fühlte ich
mich, denn es ging mir so gut, dass ich mir gar nicht vorstellen konnte, mit meinem Kind
könne etwas nicht in Ordnung sein. Ich wollte auch nicht wissen,
ob es ein Junge oder Mädchen sei, das würde ich erst bei
der Geburt wissen wollen. Mein einziger Wunsch war, ein gesundes Kind
zu tragen und zur Welt zu bringen...
Die untersuchende Ärztin war lange still, bis sie inne hielt und
andeutete, etwas sei nicht in Ordnung. Die Antwort auf meine Frage höre
ich heute noch: „Ihr Kind hat keinen Kopf.“ Ich war überrumpelt
und konnte die Ernsthaftigkeit der Lage überhaupt nicht erfassen.
Der Rest des Untersuchs war schrecklich. Die ärztin merkte wohl, wie
ungeschickt sie sich geäußert hatte, denn ich war perplex, aber wusste
sofort, wovon sie sprach. Mein Geistesblitz holte mich ein... vor meinem
inneren Auge spielte sich nun eine Reportage über Anenzephalie ab, die
ich vor Jahren gesehen hatte. In diesem Moment konnte ich nur denken,
dass Gott uns irgendwie immer auf unseren Weg vorbereitet.
Ich war allein, die
Ärztin konnte mich nicht auffangen, sie war selbst überfordert.
Keinen Blick mehr schenkte sie mir, schrieb den Bericht an meine
Ärztin und schickte mich heim. Ich wusste nicht wie mir geschah,
wusste nicht, wie ich in mein Auto stieg und nach Hause fuhr.
In den darauffolgenden Wochen wurde meine Kraft immer wieder aufs neue
getestet. Ich wurde für einen morphologischen
Ultraschalluntersuch angemeldet, den die Krankenkasse nicht
übernehmen wollte. Der Kampf darum war zermürbend,
kräftezehrend. Als im Untersuch die Diagnose bestätig
wurde, wollte ich wissen, ob ich einen Jungen oder ein Mädchen
trug. Und ich nannte ihn Gabriel. Gabriel, die Kraft Gottes,
Botschafter der guten Nachricht!
Ich wandte mich an
meine Ärztin um in irgend einer Weise Unterstützung zu
bekommen, eine Selbsthilfegruppe, ein Zentrum, irgendetwas, das mir
helfen konnte, wieder Boden unter den Füssen zu bekommen. Sie
wusste jedoch nicht richtig Bescheid, so machte ich mich selbständig
auf um Unterstützung zu bekommen und stieß auf eine
öffentliche Gesundheitsstelle, die Begleitung bei
Risikoschwangerschaften anbietet.
Der erste Termin war sehr
vielversprechend, die Krankenschwester die mich empfing war liebevoll
und es war ein wunderbares Gespräch. Sie fragte mich, ob ich
mein Kind austragen oder die Schwangerschaft unterbrechen würde.
Ein Unterbruch war für mich nie in Frage gekommen, seine Zeit
war von Gott bestimmt und ich wollte Gabriel, solange er bei mir war,
Liebe und Geborgenheit schenken.
Es sollten
Beratungsgespräche in einer Gruppe stattfinden, bis zum
Geburtstermin, im Spital würde ich begleitet und die
Beratungsgespräche würden 3 Monate über den
Geburtstermin weitergeführt. Ich freute mich auf den Austausch
mit anderen Müttern, denn ich wusste mich unter Meinesgleichen
und unsere Erfahrungen könnten uns gegenseitig stärken.
Leider geschah dem nicht so, etwa 2 Therapiestunden fanden statt,
dann war die Psychologin plötzlich in den Ferien.
Ich war auf mich gestellt. Vor Ort hatte ich niemanden, mein Bruder hatte sich von mir
abgewendet, vielleicht selber mit der Situation überfordert.
Freundinnen, die ich hier hatte, wendeten sich auch ab. Meine beste
Freundin Simone, wohnt in der Schweiz, ebenso meine Mutter, mein
Vater damals in Portugal. Von ihnen erhielt ich Unterstützung,
doch es war niemand wirklich hier, an den ich anlehnen konnte.
Zuweilen wusste ich nicht, was schlimmer zu ertragen war: Die
Tatsache, dass mein Kind zum Sterben geweiht war oder die Einsamkeit,
die Bodenlosigkeit.
Ich erinnere mich
noch heute an den Augenblick, in dem sich Gabriel drehte. Es war etwa
Mitte sechsten Monats. Ich dachte sogar, er mache sich schon auf den
Weg, doch nichts geschah. Ich sang Gabriel vor, liebkoste meinen
Bauch, spürte seine Füßchen unter meinen Händen.
Je nachdem, was ich sang oder vorspielte, verhielt sich Gabriel
ruhig, oder er spielte. Ärzte sagen, die Bewegungen eines
anencephalen Babies seien nur Reflexe, Zuckungen, denn durch das
fehlende Großhirn seien keine bewussten Regungen möglich.
Ich behaupte das Gegenteil, so wie jede andere Mutter, die ihr Kind
erlebt. Gabriel zeigte unterschiedliche Regungen, verschiedene
Bewegungsarten und Reaktionen auf diverse Reize. Denn, ich frage:
Spüren wir mit dem Gehirn oder mit der Seele?
Gabriels
errechneter Geburtstermin war im Januar. Es bestand jedoch die
Möglichkeit, die Geburt in den letzten Wochen einzuleiten, da
diese, aufgrund des mangelnden Druckes der fehlenden Schädeldecke
sehr wahrscheinlich notwendig war. Aber auch eine Einleitung gilt als
Unterbruch und so musste ich eine richterliche Beglaubigung einholen.
Am 14. Dezember konnte ich dann, mit richterlichem Entscheid, ins
Spital. Der Zeitpunkt war richtig, denn Gabriel war bereits selbst
auf dem Weg.
Es begann ein Albtraum. Die untersuchende Ärztin
war grob, ich wurde auf die Station eingewiesen und die Schwester
steckte mir einen Zugang für den Tropf, über den ich das
Wehenmittel bekommen sollte. Da ich noch nicht ins Vorgeburtszimmer
wollte, durfte ich im Gang auf- und ab gehen. Dort wurde ich
vergessen, erst gegen 20 Uhr klopfte ich an und dann durfte ich ins
Zimmer. Ich war müde, traurig, aufgewühlt. Der Tropf wurde
angehängt und das war’s. Neben mir lagen eine Frau die
einen Spontanabbruch erlitten hatte und eine andere Frau die eine
Einleitung machen musste, weil sie zu wenig Fruchtwasser hatte. Ich
weiß nicht wie, aber ich konnte irgendwann einschlafen und
wachte am anderen Tag mit einem dicken Arm auf. Der Zugang war nicht
richtig gelegt, das ganze Wehenmittel war mir unter die Haut
gelaufen. Es fing alles von vorn an. Ein neuer Zugang wurde gelegt,
ich wurde untersucht, Medizinstudenten standen um mein Bett herum und
wurden belehrt „Fall eines Anencephalus mit Geburtseinleitung“.
Im falschen Film bin ich, dachte ich. Ich meldete mich zu
Wort und meinte: ich bin Christine und mein Sohn heißt Gabriel.
Das war wichtig für mich. Der Morgen verging, die Besuchszeit
kam näher und ich war allein. Die Besuchszeit verging, ich war
allein. Ich begann zu weinen. Eine Schwester wies mich zurecht ich
soll nicht weinen, das täte meinem Kind nicht gut. Hatte sie
denn meine Akte nicht gelesen? Hatte sie denn keine Ahnung, dass
meinem Kind gar nichts mehr geschehen konnte? Von Begleitung, von
Trost, von Anteilnahme nicht die Rede. Das Wehenmittel tropfte und
tropfte und tropfte und nichts geschah. Nur ein leichtes Ziehen.
Mitten in der Nacht musste ich mein Bett räumen, eine
Notfallpatientin wurde eingewiesen. Der Tropf wurde abgehängt,
morgen würde alles von Neuem losgehen. Ich musste auf die
Wöchnerinnenstation, aber zum Glück nicht in ein Zimmer, in
dem Mütter auf ihre gesunden Kinder warteten. Eine Mutter hing
auch am Wehentropf, ihr Kind war im 5. SSM gestorben. Sie würde
eine Stillgeburt erleben… Eine andere Mutter erwartete
Zwillinge, bei einem die Diagnose Hydrocephalus. Eine dritte Frau
hatte zu wenig Fruchtwasser und war in Beobachtung. In der Nacht
gebar die Frau des gestorbenen Kindes ihren Sohn. Sie hatte ihn kurz
gesehen, wurde aber nicht gefragt, ob sie ihn beerdigen wolle, er
wurde, wie selbstverständlich für medizinische Zwecke
benutzt. Ohne zu fragen. Die Frau war arm, ungeschult und ihrer
Rechte nicht bewusst. Ich war entrüstet! Wie würde sie
ihren Schmerz verkraften? Verarbeiten? Die Psychologin, die
eigentlich vorbeikommen sollte kam nie, niemand hatte eine Ahnung
oder war fähig mit meiner oder ihrer Situation umzugehen! Die
Schwestern waren genauso verzweifelt wie wir und wenden sich deshalb
ab, erledigen nur die nötigste körperliche Pflege. Keine
Seelenpflege, sie würden sonst selbst zugrunde gehen. Am
nächsten Morgen ging es eine Ewigkeit, bis ich wieder an den
Tropf konnte. Ich musste erst nachfragen, bevor man sich meiner
annahm.
Es ist der 16. Dezember. An den Rest des Tages, kann
ich mich nicht genau erinnern. Gegen Mittag begannen die Wehen
stärker zu werden, sie sind jedoch erträglich, zu schaffen
macht mir die starke Übelkeit, die mich schüttelt, doch
niemand kümmert sich darum, hält mich an der Hand. Am Tag
zuvor, kam ein Arzt zu mir, der mir die Hand hielt, als ich weinte.
Er redete mir gut zu und sage, meine Trauer sei in Ordnung. Dabei
erzählte er mir von seiner Mutter, die auch ein Baby mit
Anenzephalie gehabt hatte. Es war sein jüngerer Bruder. Als er
auf Visite kam und sah, wie ich von Übelkeit geschüttelt
wurde, verabreichte er mir ein Mittel, das sofort wirkte und ich
wurde ruhiger. Als die Wirkung nachließ, war sein Dienst schon
zu Ende, von den Anwesenden unternahm jedoch niemand etwas. Ich war
allein. Tagsüber bat ich immer wieder darum unter die Dusche zu
dürfen, das warme Wasser auf meinem Bauch linderte die
Schmerzen. So gegen 19 Uhr meinten die die Ärzte, sie würden
mich nochmals vom Tropf abhängen, falls sich bis 20 Uhr immer
noch nichts getan hätte. Tagsüber wurde ich jedoch nie
untersucht, niemand hatte eine Ahnung wie weit vorgeschritten die
Geburt war. Ich wusste es am wenigsten, es war mein erstes Kind.
Um 20:30 sprang mein
Wasser. Ich stand gerade neben dem Bett, da ich mir die Beine
vertreten wollte. Die Ärztin schimpfte mich an, ich soll sofort
aufs Bett, dann untersuchte sie mich. Gabriels Köpfchen war
schon sichtbar! Ich wurde in größter Eile vorbereitet, in
den Kreissaal gebracht, wusste nicht, wie mir geschah. Diesen
Augenblick hatte ich so ersehnt, ich würde meinen Sohn
kennenlernen… und auch so gefürchtet, nun musste ich ihn
loslassen! Der körperliche Schmerz war so ertragbar gegenüber
dem abgrundtiefen, zerreißenden Seelenschmerz!
Ich wimmerte,
weinte, die Ärztin fährt mich grob an, still zu sein. Wie
sollte ich nicht weinen, wenn mein Kind von mir geht? Wie sollte ich
still sein, wenn es mich innerlich zerriss? Wenn der seelische
Schmerz kaum zu ertragen war? Was dachte denn diese Frau? Um 21:00
Uhr war Gabriel da. Er weinte nicht. Die Stille war unerträglich.
Niemand sagte etwas, niemand nahm mich bei der Hand. Die Ärztin
ging hinaus, sie hatte ihre Arbeit getan. Keines Blickes würdigte
sie mich, kein Wort des Trostes. Einzigst der Assistenzärztin
gab sie Anweisungen und ich sollte liegenbleiben.
Die Schwester fragte mich, ob ich meinen Sohn sehen wollte. Wie konnte
sie das fragen??????
Sie brachte ihn mir, er war
eingewickelt. Ich bat sie, das Tuch aufzuschlagen, ich wollte ihn
ganz sehen. Er war so hübsch! Er ist so schön mein Gabriel.
Ich streiche ihm über den Bauch, fühle seine Haut. Er ist
schwach, seine Äugelein geöffnet doch unbeweglich, der Mund
halb geöffnet. Eine ungewöhnliche Ruhe umgibt mich. Ich
weine nicht, ich verspüre keine Trauer. Nicht in diesem Moment.
Ich kann alles gar nicht fassen. Die Schwester erklärte, sie
würde Gabriel mitnehmen und in den Brutkasten legen, er wäre
schon sehr schwach. Ich wollte ihr sagen, sie soll ihn in meine Arme
legen, er soll in meinen Armen sterben, doch ich fand die Worte nicht
und so wird Gabriel fortgetragen. Ich wurde auf eine Bahre gelegt und
in den Gang geschoben.
Auf der Bahre, im Gang vergessen, schob
man mich irgendwann auf die Wöchnerinnenstation, in das Zimmer,
das ich schon kannte. Ich war benommen und döste ich ein wenig.
Irgendwann erwachte ich und fragte nach meinem Kind. Man wollte mich
nicht mehr zu ihm lassen, er sei schon verstorben. Auch fragte man
mich, ob ich seinen Körper für medizinische Zwecke
freigebe. Ich verneinte, denn ich wollte mein Kind beerdigen. Ich
sagte ihr, ich wolle meinen Sohn nochmals sehen, denn mir wurde
plötzlich klar, dass sie ihn in den Kühlraum gebracht
hätten, ohne mir etwas zu sagen, wäre ich nicht aufgewacht!
Ich wurde zu Gabriel gebracht Da lag er. Mein Gabriel, ich nahm ihn
aus der Schale in der er lag und hielt ihn zum ersten und letzten Mal
in meinen Armen. Aber nicht das letzte Mal im Herzen, da ist er für
immer und ewig. Er war noch ein bisschen beweglich. Seine Hände
und Füße waren wunderbar groß. Ich schaute ihn mir
lange an, jede Kleinigkeit an ihm wollte ich mir einprägen.
Irgendwie war ich so geistesgegenwärtig, dass ich den
mitgebrachten Fotoapparat verlangte um Gabriel zu fotografieren. Die
Schwestern sind überrascht: Das hatte bis anhin noch niemand
gemacht, sie wollten es erst nicht zulassen!
Heute bin ich so
froh um diese Bilder! Sie erinnern mich immer wieder daran, dass mein
Kind nicht nur ein Traum war.
Am nächsten Tag durfte ich nach Hause.
Nun musste ich Gabriels Beerdigung
organisieren. Auf dem Bürgeramt habe ich ihn eingetragen, danach
ging es direkt zum Bestattungsinstitut. Dann durfte ich in den
Aufbewahrungsraum und Gabriel zum ersten und letzten Mal anziehen.
Sein kleiner Körper war eiskalt und mir rannen heiße
Tränen über die Wangen.
Gabriels Beerdigung
fand am Samstag, den 18.12.2004 statt. Es war niemand anwesend außer
mir und seinem Vater. Wir fuhren hinter dem Bestattungswagen her, der
Gabriels kleines, weißes Särglein transportierte.
Unbeschreibliche Leere tat sich in mir auf, drohte meine Seele zu
zerreißen und ich wusste nicht wohin, der Schmerz war
körperlich spürbar.
Auf dem Friedhof kaufte ich wunderschöne Blumen, mit denen Gabriel
geschmückt wurde, rundherum im Särglein. Schaulustige kamen
und wollten mein Kind sehen. Ein Herr begann mit mir über
Gabriels Größe zu diskutieren, ungewöhnlich für
ein Neugeborenes, ob er denn nicht schon älter sei... Ich hielt
es nicht aus, bat, den Sarg zu schließen und Gabriel zu
beerdigen. Gabriels Vater trug den Sarg. Ich werde dieses Bild nie
vergessen. Wir gingen zur Kinderabteilung, es ist ein öffentlicher
Friedhof. Gabriels Vater legte den Sarg in die Grube, wir gaben Erde
darauf und beteten. Der Gräber schüttete das Grab zu.
Mein Engel Gabriel ist losgeflogen. Ich liebe ihn über alles auf der Welt.
Christine Graser
Wie werden Engel geboren
Du kamst,
du gingst mit leiser Spur.
Ein flüchtiger Gast im Erdenland.
Woher-Wohin
Wir wissen nur:
Aus Gottes Hand - in Gottes Hand
Wie werden Engel geboren,
Damit sie so rein sind
Damit sie so schön sind
Damit sie so geliebt werden?
Ich kenne einen kleinen!
Geboren als Frucht der Liebe
Vereint mit der Freude der Erwartung
Engel geworden in der Trauer des Abschieds
Es wurden ihm nicht Jahre gegeben
Aber nur Stunden um Herzen zu erobern
Er durfte nicht weinen
Sondern nur schweigen und warten
Es wurde ihm aber gegeben
Geliebt zu werden
Weil er da war
Beweint zu werden
Weil er uns verlassen hat
Heute ist er ein Engel
Der, erleuchtet, all jene trösten will
Die um ihn weinen
Die auf ihn warten
Die ihn suchen
Er ist die Frucht jener Liebe
Der er geschenkt wurde
Die verstanden hat
Die ihm aus Liebe ermöglicht hat
Ein Engel zu werden
*
"Wenn etwas von uns fortgenommen wird
womit wir tief und wunderbar zusammenhängen
so ist viel von uns selber auch mit fortgenommen
Gott aber will
Dass wir uns wieder finden
Reicher um alles Verlorene
Und vermehrt um jenen unendlichen Schmerz."
Rainer Maria Rilke
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 22.02.2019