Jenna Grace
Nachdem wir während eineinhalb Jahren versucht hatten, schwanger zu werden, beschlossen wir schliesslich,
es mit medikamentöser Hilfe zu versuchen. Verschiedene Untersuchungen ergaben keine Resultate, weshalb es
bisher nicht geklappt hatte, doch nach nur einem Monat mit Clomid erschien endlich der zweite Streifen
auf dem Teststab! Wir waren aus dem Häuschen vor Freude! Unsere damals 3 Jahre alte Tochter Kylie sagte
bereits eine kleine Schwester voraus, wir wollten abwarten bevor wir uns festlegen.
Manchmal hat es seine Vorteile Krankenschwester zu sein, wie die "Vorschau" auf mein Baby per Ultraschall,
die mir eine Freundin anbot.
Ich machte mich kurz von meiner Abteilung davon; in der 14. Schwangerschaftswoche
wollten wir nun sehen, ob Kylie ihre kleine Schwester kriegen würde. Immer und immer wieder führte sie
die Sonde über meinen Bauch. Wir konnten keinen guten Blick auf das Baby werfen, aber meine Freundin sah
sich wiederholt den Kopf an. Ich erinnere mich, wie ich dachte: ""Na ja, wenn sie da sucht, wird sie nie
rausfinden ob es nun ein Junge oder ein Mädchen ist!".
Ganz beiläufig sagte sie mir, sie hätte Mühe den Kopf richtig zu sehen, ob es mir etwas ausmache, wenn
sie einen Kollegen herbeiziehe. Ich sagte, es sei in Ordnung. Sie verliess den Raum, ich konnte mir nicht
vorstellen, wen sie holen wollte. Es war bereits abends, alle hatten das Krankenhaus schon verlassen. So
lag ich da und versuchte nicht in Panik auszubrechen. Meine Freundin hatte versucht gleichgültig zu erscheinen,
doch ich wusste bereits einiges über Anenzephalie. Ich musste ständig daran denken, dass sie den Kopf
eigentlich problemlos sehen müsste, und wenn das nicht der Fall ist, so bedeutet dies Anenzephalie.
Das war einer der Nachteile, Krankenschwester zu sein.
Als sie in Begleitung eines Radiologen zurück kam, wusste ich, es war schlimmer als sie es zugeben wollte.
Nachdem er die Sonde über meinen Bauch geführt hatte, sagte er mir, sie könnten immer noch nicht sehen was
sie wollten. Ich solle bei meinem Arzt einen vaginalen Ultraschall machen lassen. Er rief ihn gleich an.
Ich versuchte meine Ruhe zu bewahren und nicht zu überreagieren. Das Gesicht meiner Freundin war knallrot.
Ich ging zurück auf meine Abteilung und sagte meiner Chefin, ich müsse die Arbeit heute früher beenden.
Zurück auf der Ultraschallabteilung sagte man mir, dass mein Arzt den ganzen Tag nicht da sei, sie aber
gebeten hatte, bis Anfang nächster Woche zu warten, um den Ultraschall zu wiederholen. Ich versuchte mit
ganzer Kraft ruhig zu bleiben.
Ich ging zurück zur Arbeit, aber nur für kurze Zeit, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte die
schlechte Vorahnung, dass das Baby wirklich Anenzephalie hatte. Ich wusste, alle versuchten nur mir keine
Angst einzujagen.
Ich ging für ein paar Stunden zu einer Freundin. Ich war so bestürzt, dass ich wusste, wenn ich in dem
Zustand nach Hause ginge, würden mein Mann und meine Tochter ausflippen. Der Gedanke, meiner dreijährigen
Tochter zu sagen, das Baby würde im Himmel leben müssen, überstieg meine Kräfte.
Als ich zu Hause war, wiederholte ich meinem Mann immer wieder was der Spezialist gesagt hatte, und dass
es vielleicht einfach noch zu früh sei, um alles klar zu sehen. Ich konnte es nicht über mich bringen,
ihm zu sagen, was es bedeutete. Einige Tage später wusste er, dass ich ihm etwas verheimlichte, so erzählte
ich ihm alles. Wir waren beide völlig erschüttert, und würden noch eine Woche warten müssen, bis der nächste
Ultraschall Klarheit schaffen würde.
Es war die schlimmste Woche, die wir je erlebt haben. So lange warten zu müssen, um zu erfahren, ob unser
Baby leben oder sterben würde, ist unertragbar!
Als wir schliesslich den Ultraschall hatten, war ich in der 15. Schwangerschaftswoche. Es vergingen nicht
einmal 5 Minuten, bis unsere schlimmsten ängste bestätigt wurden. Wir erfuhren auch, dass wir ein Mädchen
erwarteten. Schnell gaben wir ihr einen Namen: Jenna Grace.
Als der Radiologe fertig war, sandte er uns zu meiner Frauenärztin. Sie wartete bereits auf uns. Sie
war sehr einfühlsam und klärte uns behutsam über die Optionen auf, die uns nun offen standen. Sie übte
keinerlei Druck aus, die Geburt frühzeitig einleiten zu lassen, wie das viele ärzte tun, sondern informierte
uns, dass wir die Wahl hatten. Wir sagten ihr, dass wir dieses Baby austragen wollten, so lange es mein
Körper erlauben würde. Sie unterstützte unseren Entscheid und erläuterte, wie der Rest der Schwangerschaft
nun wohl verlaufen würde.
An jedem weiteren Termin hatten wir eine Frageliste mit uns. Meine ärztin war weiterhin eine Verfechterin
unserer Wahl und war für alle unsere Fragen und Wünsche offen.
Um die 33. Schwangerschaftswoche begann ich zuviel Fruchtwasser zu haben (Hydramnion). Aufgrund der
grossen Fruchwassermenge und vorzeitiger Wehen, begann sich mein Muttermund zu öffnen. Ich war sehr kurzatmig
und fühlte mich das ganze Wochenende elend. Unter der Dusche verlor ich Schleim. Bei der ärztin angekommen,
erfuhr ich, dass mein Muttermund bereits 3cm weit geöffnet war. Sie schickte mich ins Krankenhaus um die
Wehen aufzuzeichnen. Eine Welt brach für mich zusammen. Ich kam zur Gebärabteilung und traf dort eine
Krankenschwester, die ich kannte. Ich weinte und alles was ich sagen konnte war: "Ich kann das heute nicht
machen!" Ich fühlte mich so unvorbereitet! Sie schloss mich an den Monitor an und wir sahen, dass ich alle
6 Minuten Wehen hatte, aber nicht einmal 90% davon fühlte wegen dem vielen Fruchtwasser. Nach ein paar
Brethine-Spritzen hörten die Wehen auf. Ich wurde nach Hause geschickt, um unter strikter Bettruhe der Dinge abzuwarten.
Zwei Tage später wurde durch eine reduktive Fruchtwasserpunktion Fruchtwasser abgesogen. Dies gab uns etwas
Zeit und erleichterte mir die Atmung erheblich.
Wir hatten uns für einen Kaiserschnitt entschieden, um die Chancen für eine Lebendgeburt zu erhöhen.
Der geplante Termin wurde vorgezogen und ich ging wieder nach Hause um auf dem Sofa zu warten. Zwei Wochen
später war das Fruchtwasser wieder zurück und bei meinem wöchentlichen Termin war mein Muttermund 4 cm weit
offen. Meine ärztin änderte den Termin für den Kaiserschnitt nochmals, es blieben uns nun nur noch 2 Tage.
Es war so schwer zu wissen, dass es kurz bevorstand. Ich war in der 35. Schwangerschaftswoche.
Wir hatten bereits alles für die Beerdigung arrangiert, die Todesanzeige geschrieben und den Ablauf des
Trauergottesdienstes festgelegt. Ausserdem hatten alle im Krankenhaus unseren sehr detaillierten Geburtsplan
erhalten. In einen grossen Koffer packten wir verschiedene Tintenkissen, Packungen für Fussabdrücke und
Abgüsse, Ton, Kleider, den Fotoapparat, die Videokamera und verschiedene Käppchen.
Der Tag des Kaiserschnitts kam. über 30 Freunde und Verwandte waren im Wartesaal. Mein Mann und ich waren
von einem unfassbaren Frieden erfüllt. Wir wussten, dass Gottes Gnade genügend sein würde. Sie rollten uns
in den Operationssaal. Ich war froh, dass ich bereits früh einen Kaiserschnitt gewählt hatte. Jenna war in
Steisslage und ich hätte so oder so einen Kaiserschnitt benötigt. So fühlte ich mich wenigstens vorbereitet.
Als sie den Schnitt machten und sie herauszogen, fühlte ich einen Stoss und ihr Kopf stiess ein letztes Mal
gegen meine Rippen. Einen Augenblick später war sie da.
Der Arzt zeigte sie mir sofort, wie ich es erbeten hatte, sie berührte sich überhaupt nicht. Sie nahmen sie
kurz um sie abzutrocknen und dann bekam ich meine Tochter in die Arme. Ihre Augen waren offen, doch sie blinzelte
oder bewegte sie nicht. Sie atmete nicht und ihr Körper war schlaff. Man sagte mir, dass ihr Herz schlage,
doch es waren nur noch 40 Schläge pro Minute. Ich wusste, dass sie uns bald verlassen würde. Ich gab sie
meinem Mann, damit er sie halten konnte. Nach etwa 10 Minuten schlossen sich ihre Augen sachte. Ich fühlte,
dass sie jederzeit sterben konnte. Zu unserer aller überraschung schlug ihr Herz während einer Stunde und 16 Minuten.
Anfangs waren wir alleine mit Jenna Grace und unserer drei Jahre alten Tochter Kylie. Wir machten über 300
Fotos! Wir hatten die Erlaubnis, dass ein Freund im Operationssaal Videoaufnahmen machen konnte.
Viele Menschen kamen an diesem Tag um uns zu unterstützen. Nachdem wir einige Zeit allein verbracht hatten,
liessen wir auch den Rest unserer Familien kommen. Als Jennas Herz aufgehört hatte zu schlagen, gingen sie
wieder raus und wir badeten und kleideten sie an.
Dann durften alle, die unsere Tochter kennen lernen wollten kommen. Wir freuten uns,
dass so viele diesen Tag mit uns teilen wollten. Es tröstet uns zu wissen, dass all jene Menschen sich
an sie erinnern werden und auch wie sehr Jenna ihrer grossen Schwester glich. Die Freunde aus unserer
Kirchgemeinde kamen in Massen, meine Mitarbeiter aus dem Krankenhaus ebenfalls.
Wir waren von Frieden erfüllt an diesem Tag.
Wir weinten viel, wussten aber, dass Jenna bereits in Jesus' Armen war.
Fünf Tage später war der Trauergottesdienst für Jenna Grace.
Die Freunde der Sonntagsschule hatten einen Flohmarkt und Kuchenverkauf organisiert um mit dem verdienten Geld
die Beerdigung zu finanzieren. Die Kosten waren vollständig gedeckt.
Wir haben so viel Segen erfahren trotz der schwierigen Situation. Wir konnten kaum glauben, wie viele Menschen kamen um
das Leben unserer Tochter zu feiern. Unsere Kirche war proppevoll. Viele haben uns gesagt, durch uns hätten sie
realisiert, dass jedes Leben zählt.
Wir haben es nie bereut, Jenna Grace ausgetragen zu haben. Die Andenken die wir während der kurzen 35 Wochen, 1 Stunde
und 16 Minuten machen konnten, werden uns ständig daran erinnern, dass sie für immer zu unserer Familie gehört.
Chantelle
Aktualisierung:
Am 3. Oktober 2006 kam Jennas Bruder Andrew Patrick Bisbee gesund zur Welt!
Letzte Aktualisierung dieser Seite: 23.02.2019