Valentina
Die Zeit, die uns gegeben ist -
Fragmente aus dem Tagebuch einer Mutter
Von Ildikó Ketteler
Die nachfolgenden Texte sind aus einer
großen Fülle von Rohmaterial ausgewählt worden.
Dieser Blickwinkel lässt naturgemäß Vieles aus. So
ist beispielsweise die Rolle der vielen wichtigen Menschen, die uns
auf dieser existenziellen Wegstrecke begleitet und unterstützt
haben, sehr in den Hintergrund gerückt. Wir haben die
großartigste Hebamme aller Zeiten an unserer Seite gehabt,
sowie Familie und Freunde, aber auch manchmal ganz unvermutete
Fremde, die uns auf nie geahnte Weise getragen haben. Die Quelle der
folgenden Texte ist ein privater Blog. Dieser Blog war und ist noch
Valentinas „Haus“. Hier haben Begegnungen und Dialoge
stattgefunden, die für mich von allergrößter
Bedeutung waren. Ohne alle diese Menschen wäre unser Weg mit
Valentina niemals auf diese Weise denkbar gewesen, die uns als heile
und zutiefst dankbare Familie hat weiterleben lassen.
29. Juni 2010
14 Wochen bist Du nun bei uns. Bis
gestern hatte ich kein richtiges Gefühl für Dich - mir war
viel schlecht, ich war sehr müde und ich hatte wenig Raum, mich
wirklich intensiv mit Dir zu befassen.
Vor 24 Stunden haben wir Dich dann zum
ersten Mal auf dem Ultraschallbild gesehen: Ein sehr munteres,
winziges Baby. Seitdem sind wir einige Kilometer gefahren, haben viel
über Dich gesprochen, haben wenig geschlafen und ich habe so
viel geweint, dass ich davon Halsschmerzen habe. Uns bleibt ein
halbes Jahr, vielleicht. In einem halben Jahr soll Dein Geburtstag
sein, in einem halben Jahr wird Weihnachten sein, in einem halben
Jahr wird spätestens Dein Todestag sein.
Wie werden wir das tragen können?
Wie werde ich das tragen können, Dich tragen können? Ich
weiß es nicht.
Erste Routinekontrolle in der
14.Schwangerschaftswoche. Wir konnten nicht früher. Wir waren im
Urlaub, unser Arzt war im Urlaub… Es war nicht wichtig, wann,
denn es macht für uns keinen Unterschied. Wir wollen nichts
wissen. Wir haben das schon lang entschieden und wir wissen, wovon
wir sprechen, denn Bélas Down-Syndrom hatte uns schon bei der
Schwangerschaft mit Alice vor die Frage gestellt, ob wir uns
eingehendere Untersuchungen während der Schwangerschaft
wünschten.
Wir sind mit unserer Tochter Amelie zur
Untersuchung gekommen. Es fängt an, sich komisch anzufühlen,
als Dr. A. immer wieder mit dem Ultraschallkopf nach Dir sucht.
Wir sehen nur froh, wie lebendig Du
bist, aber er, er ist so still.
Und dann die Bitte, mich nochmal in
anderer Position zu untersuchen, weil er Dein Köpfchen nicht
richtig sehen kann. Ohne Erfolg. Ich hatte sofort ein schlechtes
Gefühl und habe trotzdem noch gesagt, dass ich gern ein Bild
hätte, damit das arme vierte Kind nicht später als einziges
ein leeres Album hat. Nochmal Positionswechsel und dann, sehr ruhig:
„Ich kann den Schädel nicht
richtig sehen. Vielleicht sind es einfach schlechte
Schallbedingungen, aber ich möchte Sie gerne morgen zügig
von einem Diagnostikexperten untersuchen lassen. Ich würde mich
so unendlich freuen, wenn ich mich irre. Aber wenn nicht, ist das
ganz schlimm. Die Schädeldecke kann ich nicht durchgehend
darstellen. Das Kind kann dann so nicht leben…diese Kinder
werden besser nicht geboren.“
Ich höre, aber ich begreife
nichts. Ein riesiges Loch tut sich auf…
So haben wir uns gefühlt, als bei
Béla damals kurz nach der Geburt das Down-Syndrom und dann der
lebensbedrohliche Herzfehler diagnostiziert wurden. Und jetzt kommt
es uns vor, als wäre das damals nur ein winziges Problem
gewesen, im Vergleich zu dem, was sich langsam und lähmend in
unseren Gedanken hervorarbeitet:
Unser Kind wird sterben. Es wird
geboren werden, um zu sterben.
Wenn der Verdacht sich bestätigt,
erwarte ich ein Kind, das in dieser Welt nicht leben kann. Dann bin
ich jetzt eine Mutter, deren einzige Chance ihrem Kind Mutter zu
sein, darin bestehen wird, sein einzig möglicher Lebensraum zu
sein und es dann durch die Geburt in den Tod zu begleiten. Wie
pervers ist das denn? Das kann ich nicht!!! Es schreit in mir.
Die Nacht ist schrecklich, ich kann
nicht schlafen. „Anencephalie“ - eine innere Stimme
wiederholt das Wort unablässig. Immer wieder wache ich auf und
denke A n e n c e p h a l i e. Lieber Gott, das kann nicht sein! Was
willst Du von uns? Ich nehme das nicht an von Dir! Wir haben schon zu
so viel „ja“ gesagt. Ich kann das nicht, ich habe keine
Kraft. Und ich finde keinen Schlaf, der mir zu Kraft verhelfen
könnte. Um vier Uhr lasse ich mir eine Badewanne ein und muss
daran denken, dass ich das bisher um diese Uhrzeit nur gemacht habe,
wenn mich Wehen geweckt haben… Dreimal bisher.
Jetzt tut auch alles weh. Aber wie
anders fühlt es sich an. Hoffnungslos. Bodenlos. Ich denke den
Gedanken zum ersten Mal zu Ende: Ich mache das nicht mit. Ich halte
nicht aus. Umso eher es vorbei ist, umso besser. Es muss weg.
Nie hätte ich für möglich
gehalten, dass ich so etwas denken könnte. Aber die Gedanken
sind wild geworden. Und mein Herz ist so gehäutet, dass es
nichts mehr will, als ein Ende des Schmerzes. Egal um welchen Preis.
2. Juli 2010
Feindiagnostik
Um sechs Uhr fahren wir los zur
pränataldiagnostischen Spezialpraxis. Die Fahrt dauert zwei
Stunden. Es ist alles ganz sonderbar, diese Stimmung…
Wir schweigen, heulen, trinken
Cappuccino, reden über das Unvermeidliche. Aber so richtig
trauen wir uns nicht heran an das Innere der Katastrophe. Was, wenn
es nicht stimmt? Was, wenn alles gut ist? Die Hoffnung will es nicht,
auch dann nicht, wenn wir jetzt beide meinen, es selbst gesehen zu
haben auf dem unscharfen schwarzweißen Bild. Wir wissen doch,
wie es aussehen muss und es sah anders aus. Aber es war so lebendig…
Wir kommen an. Parkplatz, Parkuhr, aufs
Klo bei Mc Donald´s, Hausnummer suchen, Lift fahren, all die
alltäglichen Nebensächlichkeiten aus denen das Leben
besteht. Es ist eine große Praxis, modern und schlicht, überall
schwangere Frauen, ich schaue Hochglanzfotos von der Hochzeit in
Schweden in der Gala an, dann sind wir dran.
Dr. K. ist sympathisch, sehr ruhig, er
weiß Bescheid, denn Dr. A. hat ihn gestern noch in unserem
Beisein angerufen und wir werden allen Wartenden vorgezogen. Das
Privileg würde ich gern abgeben. Es nimmt der Sache die letzte,
unwahrscheinliche Unschuld.
Ich weiß nicht mehr genau was er
sagt, aber er sagt es gut.
„Ich muss den Verdacht leider
bestätigen, das Gehirn ist nicht geschützt, weil der
Schädelknochen nicht durchgängig ist. Es wird sich schon in
der Schwangerschaft zurückentwickeln. Das Kind kann seine
vitalen Funktionen nicht steuern. Aber jetzt geht es ihm gut.“
Der Schlag, den wir erwartet haben,
trifft trotzdem mitten ins Herz. Ich muss so weinen, dass auf dem
großen Bildschirm nur noch Schneegewitter zu sehen ist.
Wir bekommen erklärt, was
selbstverständlich erscheint.
„Es gibt die Möglichkeit die
Schwangerschaft vorzeitig zu beenden. Sie sind an der Grenze –
vielleicht gäbe es jemanden, der noch eine Ausschabung machen
würde, aber ich glaube nicht, dass die Vorgehensweise für
sie passt. Der Umgang mit dem Kind wäre so wenig…liebevoll.“
Für diesen Satz möchte ich
ihn umarmen. Aber das andere, das steht im Raum: Die
Geburt früher einleiten, dann das sterbende Baby gebären...
„Sie müssen für sich
einen Weg finden. Ob Sie das können, ob Sie eingreifen können.
Sie können es auch austragen, oft
sterben diese Kinder unter der Schwangerschaft, aber manchmal werden
sie lebend geboren, dann sterben sie nach einigen Stunden, maximal
Tagen.“
Ich möchte unbedingt die Bilder
haben und ich wünsche mir, dass er nachschaut, was es ist.
Es ist ein Mädchen. Nicht mehr Es sondern Sie. Unsere Kleine.
7. Juli 2010
Am Wochenende haben wir einen Namen für
Dich gefunden.
Anna Valentina
Dass hinter Valentin die Bedeutung
"gesund und stark" steht, wussten wir nicht mehr. Wir
wollten zuerst den Namen und haben dann erst nochmal nachgeschaut.
Fast hätte es uns davon abgehalten, den Namen für Dich zu
wählen. Aber dann... Wer weiß schon, was und wer am Ende
gesund und stark ist. Ich bin schon lange auf einem Weg, an dessen
Rand die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit, Stärke und
Schwäche immer häufiger verschwimmen. Und manchmal kehrt
sich das Ganze um und das vermeintlich Schwache zeigt eine Kraft, die
unglaublich erscheint. Wer weiß, Valentina.
9. Juli 2010
Ihr kleines Gehirn ist da, aber es wird
sich zurückentwickeln und nur durch eine dünne Membran
geschützt sein.
Noch so unvorstellbar für mich,
woher ich die Kraft nehmen soll, sie loszulassen.
Und es ist ja nicht nur loslassen, es
ist dieses bewusste Hineingehen in den Schmerz, dieses gegen den
Schmerz das Kind aus sich herauspressen, über den Punkt
hinausgehen, an dem ich bisher bei jedem Kind dachte, ich sterbe, ich
kann nicht mehr... Wie soll ich das können, wo ich sie damit
nicht ins Leben hinein, sondern aus dem Leben herausgebären
werde?
Das macht mir Angst, richtig Angst.
13. Juli 2010
Freude
Neulich habe ich geschrieben, ich kann
mich an Valentina freuen. Das stimmt so nicht. Ich spüre meine
Liebe zu ihr, wenn ich sie sehe oder fühle und das ist schön
und wahr. Schönheit kann ich wahrnehmen und sie tut mir gut.
Meine Liebe zu unseren anderen drei Kindern, zu Schu, sie kann ich
auch gut wahrnehmen. Sie ist stark und schön. Aber freuen? Ich
glaube, die Freude ist mir grundsätzlich abhanden gekommen und
ich habe gar kein Gefühl dafür, ob sie in absehbarer Zeit
wieder auftauchen wird.
Die Zukunft, die ich mir mit jedem Tag
erarbeite, sieht aus wie ein riesiger, unwirtlicher Berg und ich bin
ohne Proviant unterwegs, ohne Kompass, ohne Seil, ohne feste Schuhe.
Ich möchte jetzt schon stehenbleiben und umkehren. Stattdessen
weiß ich, dass ich den allerschwersten Teil noch vor mir habe.
Wenn ich nicht wüsste, dass die Stärkungen auf dem Weg
unverhofft kommen können und dass sie es auch wirklich tun, dann
müsste ich mich hier und jetzt hinlegen und sterben. Aber ich
habe Glück, ich habe Erfahrungen gemacht, die mir im Grundsatz
Vertrauen geben. Ich glaube, ich bin mir sicher, dass der Weg mit
Valentina der Richtige ist und dass ich geführt werde, von
jemandem, der sieht, was hinter dem Gebirge liegt und der mir
zutraut, diese Landschaft auch zu erreichen. Ich gehe nicht alleine,
sondern mit Schu. Die Liebe zu meinen Kindern, auch zu dem, das ich
trage, wärmt mich… All das lässt mich weitergehen,
auch wenn mit dem bloßen Auge betrachtet nur eine große,
graue Gewitterwand vor mir zu sehen ist.
3. August 2010
Meine kleine Valentina! DU und der Umgang mit Dir, das Ausleben der Liebe zu Dir, das ist wahrscheinlich die einzige Medizin für das Leid, das wir erleben. Wenn ich mir diesen Prozess selber nehmen würde, sähe ich nur noch Dunkel, glaube ich.
9. August 2010
Herzchengeburtstag
Heute vor drei Jahren habe ich den in
meinem bisherigen Leben tiefsten Blick in den Abgrund getan. Unser
Sohn Béla war um diese Uhrzeit noch im OP und wir liefen
ziellos und im strömenden Regen durch Köln.
Ich hatte mein neun Wochen altes Baby
abgegeben und erlaubt, dass man ihn abkühlen würde, bis das
Herz schon fast zu schlagen aufhört, dass man sein Brustbein
durchsägen, seine weiche Säuglingshaut durchstechen würde,
in den Hals, in die Leiste, in den Kopf, dass man sein Blut durch
eine Maschine schicken und sein winziges Herzchen aufschneiden und
zusammenflicken würde. Wir hatten den Termin dafür
bestimmt, den Professor und die Klinik akzeptiert. Was, wenn wir ihn
nie lebendig wieder sehen würden? Es fühlte sich an, als
hätte ich meinen Sohn dem Tod preisgegeben.
Und dabei sollten wir dankbar sein für
diese Chance. Es war ein Privileg, all das zulassen zu dürfen.
Das Ausliefern an die Grenze des Todes als einzig möglicher Weg
ins Leben....
Wie soll in einem Mutterherz nur Platz
genug sein um diese Gegensätzlichkeit in sich aufzunehmen?
Heute Morgen ist unser kleiner
Blondschopf mit besonders viel Energie aufgewacht. Als wollte er an
diesem Tag ganz besonders unter Beweis stellen, wie lebendig er ist.
Heute weiß ich, dass ich noch tiefer in den Abgrund sehen
werde. Aber ich habe schon ein bisschen geübt mein Herz zu
dehnen. Vielleicht passt noch mehr hinein, ohne dass es Schaden
nimmt...
Damals konnten wir vieles nicht. Andere
haben für uns Worte, Gebete gefunden, andere haben uns getragen.
Heute können wir auch vieles nicht und wir werden wieder
getragen. Dafür bin ich sehr dankbar. Vielleicht ist die
Erfahrung von damals ein Grund, warum ich jetzt ziemlich sicher weiß,
dass ich mit der Entscheidung, wann und wie Valentinas Leben enden
wird, nichts zu tun haben will. Da heißt es immer „jetzt
müssen Sie entscheiden!“…
Ich weise diese Entscheidung zurück.
5. September 2010
Ich weiß, dass Valentina ein
Geschenk Gottes ist, wie jedes unserer anderen Kinder auch. Ihr
scheinbar vorgezeichneter Weg ist für uns so schwer zu ertragen,
aber ich erkenne auch, was für unglaubliche Möglichkeiten
wir durch diesen Weg geschenkt bekommen. Dass nur dadurch, dass ich
ihre Mutter sein darf, so viele Fragen, eigene Unsicherheiten, eigene
Ängste und Schmerzen einerseits in einer ungeahnten Intensität
an die Oberfläche kommen und andererseits eine Chance zur Lösung
erfahren, die eine Gnade ist. Für mein Leben ist das eine
durchaus auch gefährliche Wanderung, aber sie erschließt
mir Landschaften, die ich sonst nie zu Gesicht bekommen hätte,
die sonst vielleicht für immer hinter dem Horizont verborgen
geblieben wären.
Schmerz
Jetzt bin ich in den letzten Monaten so
absorbiert gewesen von Valentina und allem, was sie so akut mit mir
macht, dass der langsame, mittlerweile chronische Schmerz, den wir
durch Béla kennengelernt hatten davon ganz überlagert
war. In dem Film „me too“, den wir gestern gesehen haben,
kam er wieder hervor. Oder vielleicht besser gesagt: die Wunde wurde
neu berührt. Da ist mir klar geworden, dass ich sie
wahrscheinlich immer tragen werde. Mein Muttersein und damit mein
Leben wird sich nicht mehr trennen von dem Schmerz, das eigene Kind
so schutzlos hingeben zu müssen in die Welt.
Über die Schönheit der
Wehrlosigkeit denke ich nicht das erste Mal nach. Béla in sein
Leben zu begleiten wird immer mit einem tiefen Schmerz verbunden sein
und immer mit einer Schönheit, einer Liebe, die nur duch diesen
Schmerz hindurch sein kann. Als wenn unser Herz nur wirklich sehen
könnte, wenn es verwundet ist. Viel, viel habe ich in meinem
Leben dazu gehört und doch verstehe ich es erst jetzt, wo ich es
lebe. Wenn wir stark sind, sind wir für so viel Wahrheit nicht
empfänglich...
13. Oktober 2010
Kindermund
Gestern hat unsere älteste Tochter
Amelie immer wieder von Valentina gesprochen:
„Mami, ich habe mir gewünscht,
dass Du noch ein Baby bekommst! Und ich werde nicht so BUMM BUMM
(fuchtelt wild mit den Armen herum) sein, sondern ich werde Dir
Frühstück ans Bett bringen!“ Und dann Abends beim
Zähneputzen:
„Mami, ich wünsche mir, dass
Valentina so wird wie Béla!“
„Wie meinst Du das? Meinst Du,
sie soll auch das Down Syndrom haben?“
„Ja! Dass er jemand hat, der auch
so ist wie er. Das wäre doch schön! Wenn sie auch so
langsam sprechen lernt, dann können sie zusammen so sprechen.
Weil es doch blöd ist für Béla, wir sprechen so
schnell, auch Leyla! Und wir verstehen seine Sprache nicht so gut.
Dann soll er Gesellschaft haben!“
Es ist ein ganz erstaunliches Erlebnis,
sie so sprechen zu hören. Natürlich macht es mich traurig.
Diese Vergeblichkeit, dieses fatale wissen, dass sie sich Dinge
ausmalt, die so nicht passieren werden. Und gleichzeitig ist es so
schön. Ja, ich glaube, es ist gut, dass in Amelies Welt
Valentina so ganz normal unser Baby ist. Es macht sie vollständig,
schreibt sie nicht ab, lässt kindliche Hoffnung zu, lässt
den Glauben zu, in dessen Licht Valentina Zukunft hat, eine andere
vielleicht, aber eine Zukunft. Es sind für mich schöne und
tragende Momente…
1. November 2010
Gräber
Heute waren Schu und ich mit Emilchen
und Alice bei den Gräbern meiner Familie. Wir haben ja das
unglaubliche Privileg, eine eigene Familiengrabkapelle zu haben,
mitten im Wald weit weg von allem anderen Geschehen.
So sind wir durch den ersten
Novembertag spaziert, den das Wetter unbedingt unterstreichen wollte.
Feuchte, nebelige Stille, gelb und orange hinter einem grauen
Schleier.
Wie ist das... wenn man vor dem
zukünftigen Grab des eigenen Kindes steht, das gleichzeitig so
voller Leben im eigenen Bauch herumhüpft?
Es ist total verrückt, völlig
absurd.
Heute war es nicht so traurig,
irgendwie. Ich war auf Amelie konzentriert und ihre Fragen danach,
wie es in so einem Grab aussieht. Ich war eher umfangen von
Erinnerungen, als von Zukunftsgedanken, auch wenn er natürlich
aufgetaucht ist:
Nächstes Jahr besuche ich hier
meine kleine Valentina.
Ich habe schon oft darüber
nachgedacht, was für eine besondere Verbindung zum Tod mir in
meinem Leben aufgegeben ist. Als Tochter besuche ich nun schon seit
16 Jahren das Grab meiner Mutter und werde bald eine Mutter sein, die
das Grab ihrer Tochter UND ihrer Mutter besucht. Als Kind die Mutter
und als Mutter sein Kind zu verlieren...
Zwei absolute Schreckensszenarien, den
meisten Menschen passiert weder das eine noch das andere. Vielen
passiert viel Schlimmeres.
Mamis Tod ist jetzt schon wirklich
lange her. Er hat eine neue Zeitrechnung für mein Leben bewirkt
und mich tief, tief fallen lassen. Gleichzeitig habe ich schon ganz
bald gespürt, dass ich mich dadurch zum Guten verändere.
Wenn das kein anmaßender Gedanke ist. Ich habe viel gelernt,
ich lerne viel und es kommt noch das meiste. Alles wird gut, das
glaube ich.
Es ändert aber nichts daran, dass
ich manchmal nicht anders kann, als neidisch zu sein auf die Anderen,
die eine Mutter haben... und kein Kindergrab.
4. November 2010
Kontrolluntersuchung 32. Woche
Am Dienstag hatten wir Abends seit
langem mal wieder eine "Routine"-untersuchung bei Dr. A.
Durch unsere Ferien und seine war jetzt eine Lücke von 6 Wochen
entstanden und ich hatte ziemlich komische Gefühle vorher.
Zum Glück war es ein guter Termin,
trotz eines Moments, der (ich glaube, keiner der nicht dabei war,
kann sich das vorstellen) so doof war, dass Schu und ich uns nachher
darüber kaputtgelacht haben. Wir hatten vorher schon abgemacht,
dass wir keine weitere "Frosch-Analogie" auf Valentina
sitzen lassen... Und beim Ultraschall kam also wieder das
unvermeidliche (nicht bös gemeinte): Ja, da sieht man wie das
Gesicht im Ultraschallbild so charakteristisch aussieht... wie ein
FROSCH. Einen Moment Schweigen und dann also Schu ganz tapfer: Meine
Tochter sieht doch nicht aus wie ein Frosch! Und Dr. A., der
vielleicht gemerkt hat, dass das jetzt nicht so gut war, rettet die
Situation mit: Nein, natürlich nicht. Aber das Bild hier, die
Augen... man könnte auch sagen, wie E.T. (.......)
Ähm, da ist uns dann wirklich
nichts mehr drauf eingefallen.
18. November 2010
Riss in meinem Empfinden
Ich warte auf Schu, der heute
Nachmittag den ersten Termin mit unserem Bestatter hier am Ort hatte.
Ohne mich. Bin froh darum
Das letzte was ich will, ist für
mein Baby ein Grab, einen Sarg, eine Beerdigung zu organisieren.
Das einzige, was ich tun kann, ist für
mein Baby ein Grab, einen Sarg, eine Beerdigung zu organisieren.
Ich will es nicht und ich will es schön
machen.
6. Dezember 2010
Ich empfinde das ja so intensiv für Valentina: Dass sie kein Fehler ist, keine Laune der Natur, kein Sprung in der Schöpfung. Zumindest nicht mehr oder weniger, als jeder von uns. Wir alle sind unvollkommen und wir sehen es in diesem Licht noch viel deutlicher, wenn wir bereit sind hinzuschauen. Und dann spüren wir so tröstend und warm, dass wir mit all dieser Unvollkommenheit trotzdem geliebt sind.
27. Dezember 2010
Rosskur im Empfangen
Noch eine Woche bis zum Geburtstermin…
Nach der Messe gestern Morgen kam Georg
zu unserem vielleicht letzten Gespräch vor
Valentinas Geburt. Wir saßen lange an unserem wunderschönen
Weihnachtsbaum. "Eine Rosskur im Empfangen"... So hat Georg
es genannt. Ja. Es stimmt.. Es geht nur noch ums Annehmen. Wir haben
so vieles bereit gemacht, das letzte Stück des Weges liegt nicht
mehr in unserer Hand. Wann, Wie, Wo? Wir können es nicht selbst
beantworten und ich fühle sehr deutlich, dass auch die Kraft
dazu nicht aus uns selber kommen wird, denn da ist nicht mehr viel zu
holen.
Ich habe weniger "aktive"
Angst im Moment, als ich erwartet hätte, aber mein Horizont wird
immer enger, denn ich wage mich innerlich nicht heran an den Tag X
und dahinter hört meine Zeitrechnung auf. Das ist so ein
seltsames Gefühl. Wie ohne Zukunft sein.
29. Dezember 2010
Nach Georgs Besuch sind wir direkt ins
Auto gesprungen und zur Kontrolle zu Frau Dr. C. gefahren. Es war
eigentlich ein guter Termin, der gleich mit der Feststellung begann,
dass Valentina in Position liegt...
Mein Vertrauen in die Richtigkeit
unserer Entscheidung für eine Hausgeburt, um Valentina nach
Möglichkeit zu Hause zu empfangen, ist wieder gestärkt,
auch wenn ich jetzt ganz präsent habe, dass bis zuletzt alles
möglich und nichts sicher ist.
Valentinas Schublade
Der Tag gestern war ein schwerer…
Schu und ich hatten die Nacht zu Hause
verbracht, um mal ohne die Kinder durchzuschlafen und einige
Vorbereitungen weiter zu bringen. Vorher waren wir zusammen sehr gut
essen, das war schön. Nur hat es mich so müde gemacht, dass
ich danach direkt ins Bett gefallen bin. Mein unglaublicher Mann aber
hat die halbe Nacht den Birthpool neu aufgeblasen, das Sofa im
Wohnzimmer geburtsbereit bezogen, Wegbeschreibungen an alle unsere
netten Begleiter verschickt und, und, und. Wir haben beide nicht gut
geschlafen. Gestern Morgen dann habe ich meinen Teil in Angriff
genommen:
Koffer packen. Ich hatte es mir nicht
vorher vorgestellt und als es daran ging, Valentinas Kleider aus
ihrer Schublade zu holen, auszuwählen, was mitkommen müsste
in ihr Leben, da hat es mich weggeschwemmt.
Wird sie ein Leben haben? Braucht sie
die kleinen Bodys, Hosen, Strampelanzüge? Nehme ich alle
Preisschilder ab? Ich könnte ohnehin keinen dieser Gegenstände
wieder verschenken, also ja.
Bisher waren sie alle nur eine
unentschiedene Möglichkeit, ich hatte einfach alles in die
Schublade getan, um später mal damit umzugehen. Jetzt plötzlich
ist jeder Schritt ein endgültiger. Die Dinge verlassen den Raum
des Provisorischen, des Wartens und alle sind wie eine vorweg
genommene Ahnung ihrer kleinen Gestalt. Ich kann mich gegen keines
entscheiden. Alle müssen mit.
Und ich breche darüber zusammen...
Der Abschied ist so nah! Alles wehrt sich dagegen, diese liebevolle
sonst so wunderschöne Vorbereitung zu machen, und dabei immer
die schrecklichen Gedanken an die Vergeblichkeit dieses Tuns.
Es ist und bleibt die schlimmste
emotionale Ambivalenz, die ich jemals erlebt habe. Himmel und Hölle
berühren sich in solchen Momenten, obwohl ich immer dachte, so
etwas kann es nicht geben.
3. Januar 2011
Die Deadline... Der 3. Januar.
Ab jetzt ist alles Zugabe.
5. Januar 2011
Zwischendurch
Es ist ein denkbar unpoetischer Ort zum
Schreiben... Sitze mit Amelie im Auto auf dem Parkplatz vorm
Elektromarkt und warte auf meine Schwester... So ganz trivial.
Aber eben solche Momente füllen
auch diese Tage, weil das das Leben ist.
Wir waren stundenlang Kleider einkaufen
für die Kinder, es war ein gutes Projekt, weil sie viel brauchen
und ich auch mal rauskam aus dem Wartezimmergefühl... Amelie
möchte immer wieder Dinge für Valentina kaufen. Sie hat es
nicht in der ganzen Tragweite verstanden.... Wie soll sie auch. Es
ist ja nicht zu verstehen.
Im Geschäft wollte sie unbedingt
ein Paar winzige Glitzerschuhe für sie haben, so dass ich mich
mitten im Gewühle auf den Boden gekniet habe, um ihr nochmal in
Ruhe zu erklären, dass Valentina keine Schuhe brauchen wird. So
eine von vielen unglaublichen Situationen, mitten zwischen vielen
Menschen und Kleiderständern voller Babyklamotten…
9. Januar 2011
Die Wehen, nicht dramatisch, aber da. Immer wieder auch nicht erst seit heute erklären sie Valentina und mir, dass die Zeit nahe ist - auf eine Weise, die mir eben nicht weh tut.
Dienstag, 11. Januar 2011
Happy Birthday
Ja, sie ist da!
Um 21.30 Uhr ist
Anna Valentina Csilla Maria Ilona Sophie
In unserem Esszimmer ins Licht dieser
Welt geschwommen.
Sie wiegt 2760g und ist 50 cm lang
und ist einfach wahnsinnig süss
Sie ist so stark! Sie brauchte keine
Atemhilfe und hat die Geburt so toll mitgemacht...
Jetzt liegt unser süßes
kleines Mädchen auf der Brust ihres Vaters und schnarcht!
Es scheint ihr gut zu gehen bisher…<
Wir haben sie noch auf meinem Bauch
getauft, es war schön und familiär. Wir haben Champagner
auf sie getrunken und sie ging in ihrer ersten Lebensstunde von einem
Arm auf den nächsten. Wir sind ruhig, glücklich und
wahnsinnig dankbar, dass sie bei uns ist und alles harmonisch und gut
gegangen ist. Jetzt werde ich ein wenig schlafen und Schu bewacht
uns.
Dienstag, 11. Januar 2011
Heiligabend
(geschrieben 6 Monate später, am 11. Juli 2011)
Mein liebes Valentinchen! Meine Schöne!
Du warst ein so kostbares Geschenk und
es dauert fort. Deine Geburt war ein Heiligabend in so vielerlei
Hinsicht. Es war dunkel, es war kalt und durch Dich kam Licht und
Wärme von solcher Kraft, durch Dich konnten wir in den offenen
Himmel sehen. Es war eine unglaubliche Nacht voller Wunder. Voller
Größe, Würde, Liebe, Gemeinschaft, voller Vertrauen
und Glauben. Menschen haben sich gefunden, sind sich wesentlich
begegnet, haben Dich ihre Herzen öffnen lassen, haben Gott
erkannt.
Wir selber konnten nur ehrfürchtig
geschehen lassen, was so sein wollte, sollte. Und wir durften die
einzigartige Erfahrung machen, wie auf einem so endgültigen, so
engen Weg, Weite und Freiheit entsteht, wenn man loslässt. Wie
das Geschehenlassen, das Sichfallenlassen nicht unfrei macht, sondern
im Gegenteil stark und autonom. Du hast mich gelehrt, die Wahrheit in
den Gegensätzen zu erkennen. Zu erfahren, nicht zu verstehen,
wie sich dort, wo sie sich begegnen, die Welt offenbart.
Es hat mich für immer verändert.
Heute denke ich nicht an den Schmerz,
nur an diesen warmen, leuchtenden Abend an dem wir Dich begrüßen
durften, an dem Du von Arm zu Arm gehen durftest und unsere Herzen
sich vollgesogen haben mit Liebe und Nähe. Ich denke an die
Nacht der Stille und des Kerzenscheins, in der wir nur zu dritt
waren, glücklich und erschöpft, losgelassen und ganz ohne
Angst. Sie ist vielleicht der größte Schatz meiner
Lebenserinnerung.
Du bist ein seltenes Juwel gewesen, auf
dessen kostbare Schönheit wir nur einen kurzen Blick werfen
durften. Der jedoch hat gereicht, um Dich bis in den hintersten
Winkel unseres Herzens strahlen zu lassen. Und so warst nicht nur Du
schön und Dein Licht, sondern auch das, was darin sichtbar
geworden ist.
12. und 13. Januar 2011
(geschrieben 13 Monate später, am 13.2.2012)
Der Mittwoch war größtenteils
mit einem Wechsel von Besuch und Ruhe vergangen. Im Rückblick
ist er eingetaucht in ein helles, weißes Licht, fast wie mit
einem Weichzeichner versehen. Valentina hatte mir ihr Lächeln
geschenkt, gerade in dem Moment, in dem ich mit meinem Handy ein Foto
von ihr gemacht habe. Wir hatten für sie gesungen, sie hatte von
Georg die Krankensalbung erhalten. Die Kinder waren da gewesen, diese
kostbare, kurze Zeit, in der wir als Familie zu sechst zusammen
waren... Blumen begannen das Zimmer zu füllen.
Dieser unglaubliche Tag nun neigte sich
dem Ende zu und gegen sechs Uhr Abends ging es Valentinchen und mir
plötzlich zeitgleich nicht so gut. Ich musste sie Schu geben und
war gar nicht richtig in der Lage, mitzukriegen, was mit ihr los war,
weil ich von einer gigantischen Nachwehe überrollt wurde. Bis
dahin hatte ich gar nichts gehabt und mit einem Mal bekam ich einen
solchen Bauchkrampf, dass ich mich auf dem Fußboden wiederfand,
bevor ich richtig gemerkt hatte, was eigentlich passiert. Es war eine
von zwei solchen Wehen und sie dauerte eine halbe Stunde am Stück.
Die andere würde drei Tage später kommen und es waren die
einzigen Nachwehen, die ich nach der Geburt überhaupt hatte.
Erst als es langsam nachließ,
konnte ich mich wieder Valentina und Schu zuwenden. Und sie war eine
andere geworden. Das Gesichtchen war ein bisschen blau, sie hatte ein
paar Mal gekrampft. Ich weiß nicht mehr, welche konkreten
Anzeichen wir hatten, aber wir wussten: es will Abend werden. Wir
stehen ab jetzt an der Schwelle mit ihr, der Tag ihres Lebens geht zu
Ende.
Wir haben ihr nach Rücksprache mit
einem guten Kinderarzt-Freund ein bisschen Morphin gegeben und dann
noch nacheinander Nadi und Anja zu Besuch gehabt.
Ich war froh, dass sie gekommen sind,
jeweils einfach losgefahren, Nadi eine weite Strecke, um bei uns zu
sein. Es war nicht mehr die unbeschwerte Leichtigkeit um uns, die den
ganzen Tag bestimmt hatte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie
das war. Ich sehe nur die Fotos vor mir, an denen man Valentina
ansieht, dass sie nicht mehr lange bleiben wird. Und ich weiß,
wie es dann war, als Anja fuhr und wir zu dritt zurückblieben.
Es war irgendwie klar, dass jetzt diese letzte Wegstrecke vor uns
liegt. Dass alles getan ist, was Valentinas Leben ausmachen sollte.
Dass jetzt niemand und nichts mehr kommen würde, nur diese
Nacht.
Wir waren so müde.
Und so hat Schu vorgeschlagen, dass wir
in unser Bett umziehen. Wir waren ja noch immer im Wohnzimmer
gewesen, seit der Geburt. Und so hat er unser winziges Mädchen
die Treppe hinauf getragen in unser Schlafzimmer und wir haben sie
zwischen uns gelegt, an die Stelle, wo die anderen drei schon so oft
geschlafen haben. Und ich weiß noch, wie ich gegen den Schlaf
gekämpft habe. Ich wollte nicht einschlafen, auf keinen Fall.
Aber es ging nicht. Valentina lag mit ihrem Köpfchen auf meinem
Arm und ich habe versucht, sie gut zuzudecken und dann sind plötzlich
diese fünf Stunden weg gewesen. Einfach vergangen, im Schlaf.
Wie wenn nichts wäre. Diese Stunden auch irgendwie in
Dankbarkeit in diese kurze Zeit zu integrieren, die wir mit
Valentinchen hatten, ist mir lange sehr schwer gefallen. Auch das
loszulassen, zuzulassen, dass es da Stunden außerhalb meines
Bewusstseins, meiner Wachsamkeit und meiner Erinnerung gibt.
Gegen fünf Uhr bin ich schlagartig
wach geworden und dachte im ersten Augenblick, sie sei gestorben. Sie
sah einfach so aus und sie fühlte sich so kalt an. Sofort habe
ich panisch Schu geweckt und dabei Valentinchen hochgenommen und
gemerkt, dass sie doch noch da war. Sie atmete ganz leise und flach,
kaum zu spüren. Ich habe sie aus ihrem Schlafsäckchen
geschält und ihren kleinen, kühlen Körper direkt auf
meinen Bauch gelegt. Haut an Haut. Die Füßchen waren blau
geworden. Ich habe eines in jede Hand genommen, uns ganz warm
eingepackt, ihr kleines Gesicht ganz nah an meinem. Und so saßen
wir dann da im Bett. Schu hat ihre schöne Taufkerze geholt und
angezündet und wir haben Musik angemacht... Immer wieder und
wieder lief "Meine Hoffnung und meine Freude" und "Von
guten Mächten" hintereinander weg. Mein unglaublicher Mann
hatte die Kraft, zu beten. Ich nicht.
Ich bin mit Valentina verschmolzen.
Seit 13 Monaten scheue ich mich davor,
es aufzuschreiben, weil es so intim ist und so surreal. Aber heute
geht es. Ich bin weitergegangen und diese Stunde gehört zu den
wertvollsten, tiefsten, ungeheuerlichsten meines Lebens. Und so
möchte ich sie irgendwie fassen.
Bei der Haptonomie hatten wir es immer
wieder geübt und ich hatte nie das Gefühl, dass es wirklich
klappt: sich miteinander und mit Valentina zu verbinden.
Jetzt ging es. Ich habe meine Augen zu
gemacht und jeden Berührungspunkt zwischen uns ganz intensiv
gespürt. Und dann bin ich mit meiner Wahrnehmung in sie hinein
gegangen. Ganz tief. Es ist wie Yoga, aber mit einem anderen
Menschen. Ich habe alle meine Ruhe, alle meine Kraft und Liebe (und
da war auf einmal so viel davon!) in sie hinein geschickt und
versucht, sie damit ganz auszufüllen. Ich sehe das noch heute
vor mir, vor meinem inneren Auge sehe ich Valentina von innen. Und
ich spüre es, wie ich in ihr versunken bin, wie wir eins
geworden sind. Ich war nichts Äußeres mehr.
Und dann trieb irgendwann von ganz
allein ganz ruhig ein einziger Gedanke an die Oberfläche.
Du kannst jetzt gehen.
Immer wieder habe ich ihr das vorgesagt
und mir selbst auch.
Du darfst gehen. Du darfst gehen. Du
darfst gehen...
Ich lasse Dich los. Du musst gehen,
Valentina,
Du kannst es. Du schaffst das.
Immer wieder. Immer wieder.
Und dann ganz plötzlich war es da.
Ich habe das nie vorher und nie nachher gedacht, gefühlt,
gesagt. Plötzlich war er irgendwie da und ich habe in meinem
tiefsten Inneren zu ihm gerufen:
Jesus, sie braucht Deine Hilfe! Du
musst sie an die Hand nehmen. Du musst ihr entgegengehen!
"Jesus"... Er ist mir so
fern. Wirklich noch NIE habe ich wirklich gedacht, geglaubt, dass er
da ist. Und da, plötzlich, war es genau so in meinem Kopf, in
meinem Herz. Glasklar.
Ich bin direkt danach irgendwie
aufgewacht aus dieser Versenkung und habe gemerkt, dass ich dringend
aufs Klo muss. So banal. Valentina war unverändert. Aber auf den
Fotos, die Schu anscheinend in dieser Zeit von uns gemacht hat, kann
man sehen, dass sie ihre Äuglein auf gemacht hatte, während
ich so versunken war. Sie waren immer geschlossen gewesen, davor und
danach.
Und dann habe ich sie also Schu gegeben
und bin ins Bad gegangen. Ich habe mich nicht beeilt, ich war ruhig.
Als ich zurück kam, sagte Schu, er
glaubt, sie wird gleich gehen. Ich habe mich zu ihnen gelegt und wir
haben sie angesehen und gestreichelt. Sie ist in Schus Armen
geblieben. Es war in Ordnung für mich. Ich hatte sie
losgelassen, abgegeben... So unbegreiflich mir das heute erscheint.
Es waren nur noch ein paar Minuten, ein paar kleine Atemzüge und
dann keiner mehr.
Das war am Donnerstag, den 13.1.2011 um 8.10 Uhr.
An genau dem Ort, an dem ihre Reise
neun Monate vorher begonnen hatte. Und es waren nur wir drei dabei,
umhüllt von der Kraft, die das Leben macht und der es gehört.
Es war ein vollendeter Kreis von Anfang bis Ende.
16. Januar 2011
Valentinas Platz...
... an der Krippe
Ich liege im Bett, hoch oben unter dem
Dach, die Sonne schickt ihre wärmenden Strahlen herein und aus
dem Fenster kann ich Valentinchens nächste Station, die letzte,
sehen. Zwischen den Bäumen kann man auf das Dach der
Benedictuskapelle schauen.
Am Freitag werden wir sie dorthin
begleiten und bis dahin darf sie noch an der Krippe hier im Haus
bleiben. Was für ein unglaubliches Geschenk, sie so nah zu
haben! Jetzt fühle ich mich ruhig, ich weiß, dass sie da
unten ist, noch zu Hause, dass ich jederzeit hingehen kann, aber nur
noch ihren Sarg sehen werde. Der Druck, die restliche Zeit zu nutzen
ist von mir abgefallen und dahinter bin ich wahnsinnig müde.
Gestern, nachdem ich zuletzt
geschrieben habe, bin ich runter zum Essen gegangen. Die zu großen
Schritte lauern überall und so einer war es, plötzlich mit
allen geliebten Familienmitgliedern in der großen Runde zu
sitzen. Ich habe es nicht ausgehalten... Kurz darauf habe wieder
einen Nachwehenanfall bekommen wie am Tag nach der Geburt. Innerhalb
von wenigen Minuten fand ich mich zusammengekrümmt mit Tina auf
dem Küchenboden wieder. Eine halbe Stunde ununterbrochener
Krampf mit Heulen und Zähneklappern...irgendwie mit Schus,
Omsis, Ilos und Tinas Hilfe bin ich in die Badewanne gekommen und da
wurde es dann besser.
Da war sie, die deutliche Grenze. Bis
hierher geht es und nicht weiter...
Es hat mir geholfen, einzusehen, dass
es gut ist, jetzt den nächsten Schritt im Abschied von
Valentinchens Hülle zu gehen.
So haben wir noch eine Weile gemeinsam
bei ihr gebetet, als ich wieder laufen konnte und dann nur Schu und
ich noch ein Weilchen bei ihr gesessen. Als dann auch dieser Tag
zuende ging habe ich ihr ein letztes Küsschen auf die
Nasenspitze gegeben und ihr nochmal alles gesagt, was mir wichtig
war. Dann sind wir ins Bett gegangen.
Heute morgen hat mein tapferer Mann ihr
dann den Liebesdienst erwiesen und sie auch beim Schliessen der Wiege
nicht aus den Augen gelassen. Sie sogar selbst zugelötet. Sie
wird ja in unserer „Gruft" (ich hasse dieses Wort)
bestattet werden, deshalb diese Technik, aber deshalb darf der kleine
Sarg auch noch bis Freitag bleiben…
9. Februar 2011
„ICH HABE GEWONNEN!“
Das waren meine ersten Worte, als Dr.
A. nach der Geburt zu uns kam, und mir seine Hand entgegen streckte.
Ich saß noch mit Valentinchen auf der Brust in der Gebärwanne.
Oh je… es war mir sofort ziemlich peinlich und ich hoffe sehr,
dass er mir das nicht übelnimmt. Denn es kam gar nicht
kämpferisch aus mir heraus, sondern vielmehr begeistert von mir
und von Dir.
Ja, wir hatten gewonnen, gegen alle
Skepsis, alle (vielleicht angebrachte) Vorsicht, gegen Statistiken
und gegen die Angst.
In Wahrheit habe ich ja keinen Wettlauf
gewonnen und ich habe selbst keine Leistung erbracht, mit der ich mir
einen Gewinn verdient hätte. Ich durfte Werkzeug sein, Zeuge
sein und dadurch Teil werden eines Geschehens, bei dem das Leben über
den Tod gesiegt hat, Vertrauen und Liebe sich über die Angst
erhoben haben, das Licht die Dunkelheit in ihre Schranken gewiesen
hat.
Ich habe eine einzigartige Erfahrung
gewonnen, nicht wie im Wettkampf, eher so wie im Glücksspiel. Es
ist mir geschenkt worden, ich habe es nicht verdient. Und das macht
es umso kostbarer.
Und ich habe Dich gewonnen, meine kleine Tochter. Ich musste dich gleich wieder zurückgeben,
aber dennoch kann mir niemand diesen Gewinn wieder wegnehmen. Ich
habe vielleicht nie mehr gewonnen, als Dich und durch Dich und
gleichzeitig nie zuvor mehr verloren als Dich.
Vielleicht zeigt sich in Deinem Licht
mal wieder ein Geheimnis… dass es keinen Gewinn ohne Verlust
gibt. Und keinen Verlust ohne Gewinn, wenn wir bereit dafür
sind.
Dienstag, 12. April 2011
Durch Valentinas 9 Monate mit uns in
dieser Welt und ihren Übergang in die nächste, bin
zumindest ich auch auf irgendeine Weise wie neu geboren.
Ich bin dankbar und stolz, dass ich
Valentinas Mutter sein durfte. Dass ich sie tragen, gebären,
halten, lieben durfte. Dass ich von der ersten bis zur letzten
Sekunde ihrer Existenz bei ihr sein durfte, dass ich der Rahmen sein
durfte für dieses strahlende Kunstwerk. Danke, Valentinchen…
Ich würde es immer wieder tun!
Der Weg selbst war über weite
Strecken so schmerzhaft und schwer. Die "was wäre wenn“
- Frage stelle ich nicht mehr sehr oft. Trotzdem ist da ein Stachel.
Denn obwohl ich mich über jedes Kind ehrlich freue, so tut es
dennoch unerträglich weh, dass andere Kinder um mich herum so
ganz selbstverständlich gesund geboren werden. Einfach so. Als
wenn daran irgendetwas einfach, irgendetwas selbstverständlich
wäre…..
Der Weg erfüllt mich aber zugleich
auch mit Dankbareit. Wir durften lernen, dass in der Dimension des
Herzens die höchsten Gipfel dort liegen wohin man am tiefsten
hinab steigen muss. Dass es ein gewisses Licht gibt, das erst dort
scheint, wo es richtig dunkel ist. Dass das Wunder oft erst hinter
der äußersten Grenze des Schmerzes wartet. Ich weiß
noch nicht, wohin mich diese Erfahrung führt, aber zumindest
manchmal nimmt sie der Tiefe, der Dunkelheit und dem Schmerz schon in
meinem heutigen Erleben den Schrecken.
27. Mai 2011
Es tut gut, allein zu sein. Es ist der Raum, den meine Seele braucht, um sich auszupendeln… Es ist kein andauerndes Versinken, nur ein freies Nachgeben an eine Kraft, die nur so lange schmerzhaft an mir zieht, wie ich mich von ihrem Einfluss zu entfernen versuche, das Gewicht nicht annehmen will. Lasse ich los, geht es leicht und tief hinein in die Trauer, aber dann kommt bald der Schwebezustand des Umkehrpunktes und es geht ebenso leicht wieder hinaus. Und beides braucht es, hinein und hinaus, hell und dunkel, um ab und zu und immer öfter und immer langsamer an der Mitte vorbeikommen zu können, die uns eigentlich anzieht, der wir uns annähern wollen und in der wir eigentlich Ruhe finden möchten. In der die Seele eigentlich frei ist.
Auszug aus dem Buch
"Dem Leben seinen Stachel ziehen - wenn existenzielle Prüfungen zur Lebenschance werden"
Herausgeber: Joelle Verreet und Adam-Georg Graf von Schall - Riaucour.
Aschendorf Verlag 2015
Veröffentlicht mit Bewilligung der Autorin
Letzte Aktualisierung: 27.02.2019